Die Europäische Zentralbank (EZB) steht möglicherweise vor einer weiteren Zinssenkung, nachdem sie im Juni den Beginn eines neuen Lockerungszyklus eingeleitet hat. Bei ihrer Sitzung am 12. September wird erwartet, dass die EZB die Zinssätze um weitere 25 Basispunkte senkt. Angesichts der ähnlichen Signale von der US-Notenbank Fed könnte dieser Schritt den EZB-Mitgliedern leichter fallen. Doch sobald die Zinssätze auf etwa 3 % sinken, dürften die Entscheidungen der EZB zunehmend umstritten werden. Dies deutet darauf hin, dass heftige Diskussionen darüber aufkommen könnten, wie die Inflation am besten unter Kontrolle gehalten werden kann.
Die Suche nach dem optimalen Zinssatz
Während die nächsten zwei bis drei Zinssenkungen von derzeit 3,75 % wohl keine großen Unstimmigkeiten unter den EZB-Mitgliedern hervorrufen werden, könnten die Diskussionen intensiver werden, sobald die Zinssätze auf 3 % sinken. Unterschiedliche Auffassungen über die Preisaussichten und den Punkt, an dem die Geldpolitik nicht mehr das Wirtschaftswachstum bremsen sollte, könnten zu hitzigen Debatten führen.
Die Schätzungen für diesen kritischen Punkt reichen von 2 % bis 3 %. Angesichts der sinkenden Inflation erwarten Märkte und Analysten, dass die Zinssätze bis zum Jahresende dem oberen Ende dieser Spanne näherkommen könnten. Viele rechnen damit, dass sie sich schließlich bei etwa 2,5 % einpendeln werden.
Frühe Anzeichen für Spannung
Isabel Schnabel, Mitglied des EZB-Direktoriums, warnte kürzlich: „Je näher die Zinsen dem oberen Bereich der Schätzungen des neutralen Zinssatzes kommen, desto vorsichtiger sollten wir sein, um zu vermeiden, dass die Geldpolitik selbst zu einem Faktor wird, der die Disinflation bremst.“
Spielraum für Zinssenkungen
Die EZB-Vertreter sind sich weitgehend einig, dass noch Raum für weitere Zinssenkungen besteht, da die Verbraucherpreissteigerungen noch im Einklang mit der Prognose stehen, dass das 2%-Ziel bis Ende nächsten Jahres erreicht werden könnte. Nach der ersten Zinssenkung im Juni werden weitere Senkungen im September und Dezember erwartet, und auch eine zusätzliche Senkung im Oktober ist nicht ausgeschlossen.
Uneinigkeit über die Inflation
Die Meinung darüber, wie stark die Inflation – aktuell bei 2,2 % – weiter ansteigen könnte, ist gespalten. Während einige Mitglieder der EZB befürchten, dass eine zu schnelle Lockerung der Geldpolitik die Inflation anheizen könnte, machen andere sich Sorgen über eine mögliche Verfehlung des Inflationsziels, insbesondere angesichts der schwächelnden Wirtschaft in der Eurozone.
Aussagen der EZB-Mitglieder
Griechenlands Yannis Stournaras betonte die Notwendigkeit, sowohl Über- als auch Unterschreitungen des Inflationsziels zu berücksichtigen. Portugals Mario Centeno warnte davor, dass eine zu restriktive Geldpolitik wirtschaftliche Schmerzen verursachen könnte. Im Gegensatz dazu hob Boris Vujcic aus Kroatien das anhaltende Preiswachstum im Dienstleistungssektor hervor, während Bundesbankpräsident Joachim Nagel vor einer zu schnellen Senkung der Zinsen warnte.
Die Frage, wann die Geldpolitik beginnt, das Wirtschaftswachstum zu stimulieren statt zu bremsen, bleibt umstritten. Der sogenannte neutrale Zinssatz ist schwer zu bestimmen, und die Schätzungen variieren erheblich.
Ein Blick auf die unterschiedlichen Einschätzungen
Einige EZB-Volkswirte schätzen den neutralen Zinssatz auf eine Spanne von 1,25 % bis 3 %, während andere, wie der französische Wirtschaftsexperte Francois Villeroy de Galhau, einen Bereich von 2 % bis 2,5 % nennen. Dies deutet darauf hin, dass es noch erheblichen Spielraum für Zinssenkungen gibt, bevor die Geldpolitik als restriktiv angesehen werden könnte.
Ein gespaltenes Gremium
Das Risiko einer Stagflation im Euroraum wird die Diskussionen über weitere Zinssenkungen zunehmend kontroverser machen. Der EZB-Rat ist stark gespalten zwischen den „Tauben“, die eine lockere Geldpolitik bevorzugen, und den „Falken“, die eine vorsichtige Annäherung fordern. Wie Carsten Brzeski von ING feststellt, werden die Falken eher zu Zinssenkungen bereit sein, wenn sich das Wirtschaftswachstum im Euroraum weiter abschwächt.